Die Schubladen-Problematik

Über Genre-Verwirrungen, Klischees und Gewohnheiten

 

Die Fantastik und IKEA

Manchmal habe ich das Gefühl, die Belletristik ist schlimmer als ein PAX-Schrank von IKEA: voll von Schubladen, Fächern, Ordnungs- und Sortierungssystemen. Das fieseste Schubladen-Problem scheint die Fantastik zu haben, zumindest nehme ich es so wahr. Hier das richtige Genre zu finden ist eine Herausforderung.

Fantasy, Fantastik, Low Fantasy, High Fantasy, Science-Fiction, Science Fantasy, Urban Fantasy, Paranormal Fantasy, Romantasy … die Liste ist endlos erweiterbar. Für jede Unterform scheint es weitere Unterformen zu geben, sodass teilweise echte Begriffsmonster entstehen, wenn man einen Roman ganz spezifisch einer Kategorie zuordnen will. Eine sehr spannende und gleichzeitig auch erschreckende Übersicht über sämtliche Subgenres der Fantastik bietet übrigens diese Seite hier.

Die Suche nach dem passenden Genre

Was das Chaos perfekt macht, ist die Tatsache, dass sich Definitionen, je nach Sprachraum und Community, unterscheiden können. Schon der Versuch, Fantasy und Fantastik auseinander zu halten,  ist knifflig. Fantastik umfasst in der Regel alle Werke, die in der Realität angesiedelt sind, aber übersinnliche, nicht-menschliche oder außerirdische Erlebnisse einschließen. Darunter fallen klassische Schauerromane á la H. P. Lovecraft ebenso wie die moderne Science Fiction oder Dystopien. Unter Fantasy werden hingegen eher die Werke zusammengefasst, die in fantastischen Welten angesiedelt sind (z.B. „Der Herr der Ringe“) oder eine fantastische Parallelwelt innerhalb unserer Welt postulieren (z.B. „Harry Potter“). Gerade Letzteres sträubt sich aber schon wieder ein bisschen gegen diese klare Zweiteilung.

Wir sehen also, dass die Fantastik als Genre extrem weit gefasst ist. Während wir in jedem Krimi erwarten, dass es um einen Kriminalfall, eine*n Ermittler*in und eine*n Täter*in (oder mehrere) geht, ist die einzige Gemeinsamkeit in der Fantastik das fantastische Element. Das Erzählen über fantastische oder nicht-irdische Begebenheiten in all ihren Facetten. Die Bandbreite ist also enorm.

Dagegen birgt jedes Subgenre, so schwer sie teilweise auseinanderzuhalten sind, eigene Konventionen und Settings. In einem Steampunk-Roman erwartet man andere Prämissen und Themen als in einer Space-Opera. Und ein High-Fantasy-Epos wird andere Konflikte aufbringen als eine Romantasy-Geschichte. Allein die Verortung in einem bestimmten Genre erzeugt also eine gewisse Leseerwartung. Doch wie gelingt es, diese Erwartung in die richtige Richtung zu lenken?

Drin ist, was draufsteht?

Als Verbraucher*innen sind wir gewohnt, dass auf jeder Verpackung genau steht, was wir darin vorfinden. Erst diese Woche hat der EuGH in einem Gerichtsurteil festgelegt, dass die Bezeichnung „Käse“ nur für tierische Milchprodukte zulässig ist – denn der Verbraucher soll nicht über den Inhalt der Packung  getäuscht werden. Analog dazu war der Aufschrei groß, als vor einigen Jahren in der Tiefkühllasagne Pferdefleisch nachgewiesen wurde, wo doch „Rind“ auf dem Etikett stand.

Mit Büchern verhält es sich ähnlich, allerdings finden wir auf dem Cover eines Romans selten ganz konkrete Hinweise auf das Genre. Teilweise behelfen sich Verlage durch einen Genre-Schriftzug wie „Thriller“ oder „ein Fantasy-Roman“, doch das ist eher die Ausnahme. Meistens sind es Cover, Titel und Klappentext, die Leser*innen den richtigen Eindruck vom Inhalt vermitteln und die passende Zielgruppe ansprechen sollen. Das funktioniert meistens, aber nicht immer.

Allzu häufig liest man in Amazon-Rezensionen negative Reviews, bei denen die Passung aus Erwartung und Produkt nicht funktioniert hat. Die (potentielle) Leserschaft formt sich eine gewisse Erwartung über ein Buch, die sich aus der Gestaltung des Covers, dem Klappentext und der Platzierung im Bücherregal (auch im virtuellen) speist. Wird diese nicht erfüllt, ist die Enttäuschung oft groß. Leser*innen sind bestenfalls irritiert, schlimmstenfalls fühlen sie sich betrogen. Genau wie Kund*innen bei der Pferde-Lasagne.

Don’t judge a book by its Cover – oder doch?

In einer Umfrage der Uni Karlsruhe gaben 57 % der Leser an, beim Kauf eines Buches in erster Linie auf das Cover zu achten. Zugegeben, auch ich gehöre zu diesen Leuten. Gerade im Buchhandel ist es häufig ein herausstechendes Cover, das mich dazu bringt, das Buch in die Hand zu nehmen und den Klappentext zu lesen. Letzterer entscheidet allerdings primär über den Kauf.


Was wir sehen: Eng-umschlungenes halbnacktes Pärchen vor Rosamunde-Pilcher-Kulisse

Was wir erwarten: Romanze mit ein bisschen Sex, aber eher keusch, mit Happy End. Typisches „Groschenheft“, eher etwas für Wartezimmer oder Krankenhaus-Cafeterien.

Cover des Romans "Elantris" von Sanderson
Elantris
(altes Cover)

Was wir sehen: Silhouette einer Figur mit Stab und Robe vor Fantasy-Kulisse, kriegerisch anmutender Helm und Banner

Was wir erwarten: High-Fantasy-Epos über den epischen Kampf Gut gegen Böse, klassischer Stoff für Nerds und Realitätsverweigerer

Was wir sehen: Abstraktes Cover in rot-schwarz mit ikonischer Schrift und einem Spritzer Blut

Was wir erwarten: knallharter Thriller mit fiesem Serienmörder und nervenzerfetzender Spannung, explizite Gewalt sehr wahrscheinlich

Was wir sehen: Weicher, märchenhafter Hintergrund mit zentraler Frauenfigur in einem Ballkleid und schnörkelige Schrift

Was wir erwarten: romantische (Jugend-)Fantasy mit weiblicher Hauptfigur, Märchenmotive, Mädchen als zentrale Zielgruppe


Natürlich sind diese Interpretationen sehr klischee- und vorurteilsbeladen, aber Hand aufs Herz: Ist es euch nicht auch schon mal so gegangen, dass euch genau diese Gedanken beim Betrachten eines Covers durch den Kopf geschossen sind? Da seid ihr nicht allein.

Die kognitive Abkürzung

Schuld daran, dass wir bestimmte Dinge in vorgefertigte Schubladen packen, ist unser Gehirn. Jeden Tag wird es mit Milliarden Informationen überhäuft und muss daraus einen Konsens bilden – das ist nicht so einfach und kostet jede Menge Kapazitäten. Deswegen benutzt unser Gehirn so genannte Heuristiken, kognitive Abkürzungen (mehr zum Thema Klischees und Heuristiken).

Aus früheren Erfahrungen lernt unser Gehirn, bestimmte Dinge miteinander zu verknüpfen und dadurch logische Zusammenhänge herzustellen. Wenn ein bestimmtes Cover-Motiv also in ein, zwei, drei Fällen mit einem gewissen Inhalt einher ging, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es auch im vierten, fünften, sechsten Mal so sein wird. Genau diese Abkürzungen merkt sich unser Gehirn. Das kommt den Verlagen und auch den Self-Publishern zugute, denn auf diese Weise kann die richtige Zielgruppe über bestimmte, stereotype Cover-Motive effizient erreicht werden. Es braucht dann keinen Hinweis „Romanze inside“ mehr, um klar zu machen, dass dieser Roman eine Liebesgeschichte beinhaltet. Das sieht man auf den ersten Blick am schmusenden Pärchen.

Auch die Ähnlichkeit zu bekannten Vertretern des Genres wird gerne ausgenutzt, um Leser anzulocken. Patrick Rothfuss‘ „Name des Windes“ hat zahlreiche Cover-Zwillinge erzeugt, genau wie „50 shades of grey“ oder die Romane von Jojo Moyes. Die Überlegung ist klar: Sieht das Cover ähnlich aus, ist auch der Inhalt ähnlich.

Fazit

Leseerwartungen, bedingt durch Genre-Konventionen, Cover und Klappentext, dürfen nicht unterschätzt werden. Sie beeinflussen nicht nur die Kaufentscheidung, sondern auch die Bewertung des Buches, und müssen daher sorgfältig abgewogen werden. Für Autor*innen und Verlage ergeben sich daraus drei Botschaften.

  • Erstens: Seid euch bewusst, was ihr schreibt. Es ist nach meinem Ermessen nicht notwendig, den Roman in eine ganz klare Schublade einzuordnen, aber eine grobe Orientierung ist hilfreich.
  • Zweitens: Kennt eure Zielgruppe. Wen soll das Cover und der Klappentext ansprechen? Welchen Inhalt wollt ihr vermitteln? Welche Elemente sollen besonders hervorstechen? Was könnte bei den Leser*innen falsche Erwartungen wecken?
  • Und drittens: Titel, Cover und Klappentext entscheiden darüber, wer euer Buch in die Hand nimmt oder kauft – also widmet ihnen alle erforderliche Aufmerksamkeit.

Aber auch Leser*innen sollten gut darauf achten, von ihrem Gehirn nicht an der Nase herumgeführt zu werden. Werft auch mal einen Blick über Klischees oder Genregrenzen hinaus, seid neugierig und experimentierfreudig. Vielleicht erlebt ihr ja eine Überraschung. Beispiele gefällig?

Dieser Überblick listet eine Reihe Fantasy-Bücher auf, deren Inhalt mit den gewöhnungsbedürftigen Covern nicht harmoniert.

Wie ist das bei euch, wie wichtig ist euch die Covergestaltung, wenn ihr ein Buch kauft oder verlegt? Seid ihr schon mal von Titel und Aufmachung arg getäuscht worden? Sind euch Genregrenzen wichtig?

Lasst es mich wissen.

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