Über Geschlechterstereotype und Klischees in der Buchwelt
Anmerkung: Dieser Blog-Beitrag ist sehr binär und spricht überwiegend von Frauen und Männern, deswegen: CN Cissexismus
Der Autor Sven Hensel hat den Mai zum Aktionsmonat für weibliche Autoren ausgerufen, und die Reaktionen auf Twitter waren heterogen. Während sich viele für die Idee bedankten, kam von anderer Seite Kritik: Noch so ein Aktionsmonat für Frauen? Brauchen wir so was überhaupt? Ich hab mich mal hingesetzt und versucht, mir meine eigene Antwort auf diese Frage zu bilden.
Ein Beitrag zum Aktionsmonat #autorinnenzeit
Frauen als Musen, Geliebte, Managerinnen
Die Werke von Currer, Ellis und Acton Bells aus dem 19. Jahrhundert könnten moderne Psychothriller sein. Es geht um Wahnsinn, Trunksucht, Sex und Crime, um Ausgrenzung, Einsamkeit und die Unterdrückung der Frau. Gerade der letzte Punkt dürfte den „Autoren“ besonders am Herzen gelegen haben, denn in Wahrheit verbargen sich hinter dem Pseudonym die drei Schwestern Charlotte, Emily und Anne Brontë. Eine Frau als Schriftsteller? Undenkbar in der damaligen Zeit. Als Musen, Geliebte oder Managerinnen ihrer schreibenden Gatten fanden sie durchaus Anklang in der literarischen Welt, doch um selbst zu publizieren, mussten die Damen zu allerlei Tricks greifen. Selbst Bettina von Arnim oder Mary Shelly bedienten benötigten die Namen ihres Bruders oder Gatten, um ihre Werke bekannt zu machen.
Glücklicherweise gehören diese Zeiten der Vergangenheit an. Heute bedarf es keines Pseudonyms mehr, um als Frau auf dem literarischen Parkett erfolgreich zu sein. Heute ist der Buchmarkt emanzipiert. Oder?
„My novel wasn’t the problem“
Die Autorin Catherine Nichols hat die Gleichberechtigung auf dem (us-amerikanischen) Buchmarkt 2015 effektiv in Frage gestellt. Sie schickte ihr Roman-Manuskript an rund 50 Verlage und Agenturen. Einmal unter ihrem eigenen Namen, einmal unter dem Pseudonym George Leyer. Das Ergebnis war frappierend. Während sich nur zwei von fünfzig Adressaten bei Catherine meldeten, erhielt George binnen 24 Stunden bereits fünf positive Antworten, siebzehn insgesamt. Etwa ein Drittel der Agenten wollte damit Georges Gesamtmanuskript sehen, das von Catherine hingegen weniger als fünf Prozent – bei identischem Wortlaut. Frustriert kommt die Autorin zu dem Ergebnis: „My novel wasn’t the problem, it was me.“ (Link zum Original).
Gesucht: Frauenquote
Als Beweis für den geringen Anteil weiblicher Autoren auf dem Buchmarkt wird häufig der Literaturnobelpreis herangezogen. Über 80 % der Preisträger sind männlich, nur 12,6 % weiblich. Aber mal ehrlich – der Nobelpreis als Repräsentant des Buchmarktes? Ziemlich problematisch. Abgesehen davon wissen wir alle, wie sehr sich die Rolle der Frau in den letzten 100 Jahren verändert hat. Insofern ist der Nobelpreis wirklich ein schlechter Indikator für die aktuelle Situation.
Besser geeignet scheint eine Inspektion der Bestsellerlisten. Der Spiegel listet in einer Fotoreihe die vierzig erfolgreichsten Bücher von 2005 bis 2015 auf und es stellt sich heraus: etwa ein Drittel der Autor*innen sind Frauen, also bereits deutlich mehr als beim Nobelpreis, aber immer noch weit unter 50 %. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Blick auf die Forbes-Liste der reichsten Schriftsteller. Unter den Top 12 befinden sich fünf Männer und sieben Frauen.
Alles in allem tun wir uns hier also schwer mit einem abschließenden Fazit, aber eines scheint zumindest klar: Weibliche Autoren sind nicht per se weniger erfolgreich als ihre männlichen Konterparts. Ob sie hingegen größere Hürden in Angriff nehmen müssen, um mit dem Schreiben erfolgreich zu werden, lässt sich aus solchen Statistiken nicht entnehmen. Ebenso wenig, ob sie seltener Anerkennung oder Preise für ihre Werke erhalten. Die Erfahrungen von Catherine Nichols sprechen allerdings dafür. Auch die Bestseller-Autorin Nina Georoge äußert sich in einem Artikel über die Rolle der Frau im Literaturbetrieb ähnlich: „Der deutsche Literaturbetrieb hat’s nicht so mit Frauen.“
Frauen schreiben für Frauen, Männer für die Welt
Sehen wir uns die Bücherregale etwas genauer an, kommen wir zwangsweise zu dem Schluss, dass die Geschlechterverteilung stark zwischen einzelnen Genres schwankt. Liebesromane, Jugendliteratur und sogenannte „Frauenunterhaltung“[1] stammen in erster Linie aus weiblicher Hand, Thriller, Horrorromane und Fantasy sind dagegen Männerdomäne. Wie kommt das? Wo liegt der Fehler im System? Und gibt es überhaupt einen Fehler?
„Männer nehmen von Frauen geschriebene Bücher als Bücher für Frauen wahr.“
– Elena Ferrante
Dass sich Männer und Frauen schon allein aufgrund ihrer Sozialisation unterscheiden ist, denke ich, kein Geheimnis. Unterschiede sind schön, sie führen zu Diversität und Vielfalt. Insofern würde es mich nicht überraschen, wenn Männer anders schreiben, anders lesen als Frauen, zumindest wenn man das große Ganze betrachtet, den Durchschnitt sozusagen. Und genau da kommen wir an den kritischen Punkt.
Durchschnitt vs. Einzelwerk
Der Buchmarkt in seiner Gesamtheit ist ein riesiges Konglomerat aus Leser*innen, Autor*innen, Verlagen, Agenturen und so weiter. Über dieses riesige Gesamtbild hinweg mag es durchaus Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Autoren geben. Vielleicht konzentrieren sich Frauen im Durchschnitt tatsächlich mehr auf Konflikte, Emotionen und Beziehungen, während sich die Männer lieber mit Action, Spannung oder Dramatik beschäftigen. Möglich.
Doch wenn wir ein einzelnes Buch aus dem Regal ziehen, dann haben wir ein hoch individuelles Werk vor uns, ein kreatives Einzelstück, das von hundert verschiedenen Einflüssen geprägt ist. Grundlegend anzunehmen, es gäbe einen „männlichen“ und einen „weiblichen“ Schreibstil, ist zum einen übertrieben binär und basiert zum anderen, wenn überhaupt, auf einem relativ aussagelosen Mittelwert.
Zu behaupten, Frauen könnten keine düstere Fantasy oder Science Fiction schreiben, ist genauso absurd wie zu sagen, Männer beherrschten keine Romantik. Bücher werden von Menschen geschrieben, von Individuen, nicht von einer breiten Masse. Das Geschlecht des Autors ist allerhöchstens ein Rädchen im Gesamtkunstwerk. Und ganz bestimmt sagt es nichts über die Qualität des Schreibens aus. Höchstens über Erwartungen der Gesellschaft an ein bestimmtes Geschlecht.
Blick über den Tellerrand
Zum Schluss möchte ich noch ein paar persönliche Worte loswerden. Wenn mich ein Buch anspricht, dann achte ich selten darauf, ob es ein Mann oder eine Frau geschrieben hat. Ich lasse die Sprache auf mich wirken, entscheide, ob ich die Figuren mag, die Handlung, die Welt, die Art, wie die Geschichte erzählt wird.
“But there is no male or female language, only the truthful or fake, the precise or vague, the inspired or the pedestrian. […] The only distinction that will matter will be between good and bad writing.”
– Francine Prose
Natürlich sind wir alle nicht gefeit vor Stereotypen, auch ich nicht, und gerade Covergestaltung und Titelauswahl tun ihr Übriges, um bekannte Klischees zu bedienen. Man will ja schließlich die richtige Zielgruppe ansprechen. Aber je mehr wir lesen, je mehr wir uns mit dem Schreiben auseinandersetzen, desto eher können wir diese Schranken im Kopf überwinden, und darauf kommt es schließlich an.
Deswegen möchte ich euch folgenden Rat ans Herz legen: Kauft Bücher die sie euch berühren, die euch verzaubern, euch atemlos zurücklassen. Kauft aktiv Bücher von Menschen, von denen ihr sonst weniger lesen würdet, weil Klischees eure Erwartungen und die des Buchmarkts beeinflussen. Kauft Bücher, weil sie gut sind.
Weiterführende Links
Tipps von mir für die Bücher von Autorinnen: #buchpassion: Inspirierende Phantastik-Autorinnen
Markus Mäurer: Von der Löschung der Liste deutscher Science-Fiction-Autorinnen
Markus Mäurer: Science Fiction Autorinnen in Deutschland
Judith Vogt: Das gefrorene System
Alpakawolken: Frauenlesen – wenn egal nicht egal ist
[1] Schon der Begriff ist ein einziges Stigma, wenn wir mal ehrlich sind!
„Männer nehmen von Frauen geschriebene Bücher als Bücher für Frauen wahr.“
Schade, dass du auf dieses Zitat nicht weiter eingehst. Eine spannende These, wenn du mich fragst. Immerhin steckt darin eine große Diskriminierung dahinter…
Da hast du recht, das ganze Thema ist so groß und unerschöpflich, dass man ganze Doktorarbeiten darüber schreiben könnte. Deswegen bin ich das Thema Frauen-/Männerliteratur gar nicht mehr im Detail angegangen, sondern habe es nur tangiert.
Das Problem der Zielgruppe ist ja immer präsent. Als Verlag und auch als Selfpublisher will man natürlich die Personen ansprechen, denen der Inhalt des Buches gefällt, und da rutscht man schnell in die Klischeekiste. Weiblicher Prota und eine Beziehung? Logo, Frauenbuch. Also hübsche Lady aufs Cover, Schnörkel und sanfte Farben. Männlicher Prota, Gewalt und Action? Männerbuch, ganz klar. Kantiger Kerl aufs Cover oder noch besser ganz stilisiert mit kraftvollen Symbolen. Dadurch entsteht für die potentiellen Leser sofort der Eindruck, dieses Buch sei speziell für das eine oder andere Geschlecht gedacht. Dasselbe passiert, wenn man rosa und blaue Schokolade macht und auf die eine pinke Feen und Einhörner und auf die andere Bagger und Autos draufdruckt. Es zementiert Klischees.
Ich bin diesbezüglich sehr dankbar, dass mein Debüt ein gender-neutrales Cover bekommen hat. 😉
Nina George hat sich in ihrem Artikel noch etwas detaillierter damit auseinandergesetzt, soweit ich mich erinnere. Wenn dich das Thema interessiert, findest du da vielleicht noch ein paar Anregungen.
Ja, dein Beitrag hat mich auf jeden Fall angeregt, mich etwas ernster mit dem Thema auseinanderzusetzen. Vielen Dank für deine Ausführungen! 🙂
Ich habe dein Zitat von Elena Ferrante aufgegriffen und selbst ein kleines Statement zur Autorinnenzeit abgegeben – falls es dich interessiert: https://wortinselnblog.wordpress.com/2017/05/04/hanni-und-nanni-autorinnenzeit/?frame-nonce=ce08d7db81
🙂